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Digitalisierung und Personalarbeit: „Das blinde Hinterherlaufen muss ein Ende haben“
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Der Goinger Kreis warnt deutsche Unternehmen davor, im Hype um die Digitalisierung die eigene Innovationskraft aufs Spiel zu setzen – Der Think Tank präsentiert mit dem Digital HR Manifesto zwölf Leitsätze für digitale und gleichzeitig wertschöpfende Personalarbeit.
München, 20.03.2019. Knapp zwei Jahre hat der Goinger Kreis an seinem Digital HR Manifesto gearbeitet. Der Think Tank hat umfangreiches Datenmaterial ausgewertet und wissenschaftliche Studien analysiert. Das Ergebnis: „Die“ Digitalisierung gibt es nicht, sondern hinter dem scheinbar einheitlichen Begriff verbergen sich höchst unterschiedliche Anwendungsfelder und teilweise fragwürdige Philosophien. Im Digitalisierungsdruck hinterfragen Personalchefs nicht, ob die jeweiligen Systeme Wettbewerbsvorteile schaffen. Und: Personalarbeit läuft Gefahr, strategische Erfolgsfaktoren aus dem Blick zu verlieren. „Digitale Tools können administrative Prozesse zweifellos effizienter machen und das sollen sie auch“, erklärt Thomas Marquardt, Global Head of Human Resources bei Infineon Technologies und Sprecher des Goinger Kreises. „Aber im strategischen Bereich, wo es gerade nicht um genormte Lösungen geht, gelten andere Kriterien.“ Dass die technische Umsetzung beeindrucke, bedeute nicht, dass die dahinterstehenden Prozesse wirklich modern und innovationsfördernd seien. Wertschöpfende Personalarbeit ziele darauf ab, Systeme zu implementieren, die Freiräume für Entwicklung, Vielfalt und Innovation schaffen. „Digitale Instrumente müssen unterschiedliche Lösungsansätze zulassen, statt die vermeintlich einzig richtige Lösung vorzugeben. Andernfalls behindern sie die Kräfte, die wirklich zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen beitragen.“
„Mit der digitalen Reisekostenabrechnung gewinnt man keine Marktanteile.“
Seit 15 Jahren beschäftigt sich der Goinger Kreis mit Themen der Personalarbeit an der Schnittstelle von Unternehmen und Gesellschaft. Zu den Mitgliedern dieses praxisorientierten Think Tanks zählen Personalverantwortliche großer europäischer Unternehmen, Wissenschaftler und Berater. Sie beobachten, wie sehr sich HR Manager von der Digitalisierung unter Zugzwang gesetzt fühlen. In der Konsequenz würden administrative und strategische Aufgaben vermischt – zum Teil völlig unüberlegt.
Natürlich sei es sinnvoll, in eine elektronische Gehaltsabrechnung, eine Bewerber-App oder einen Employee-self-service zu investieren. Andernfalls riskiere man einen deutlich messbaren Nachteil gegenüber Mitbewerbern, die effizienter und attraktiver für Fachkräfte sind. „Hier haben viele Firmen noch Nachholbedarf und sollten handeln, keine Frage“, so Marquardt. „Aber nicht die digitale Reisekostenabrechnung entscheidet darüber, wer am Markt die Nase vorn hat. Klassenprimus wird der, der bei der Auswahl, Führung, Entwicklung und Zusammenarbeit von Menschen die richtigen Weichen stellt.“
Deshalb dürften Prinzipien einer effizienten Verwaltung nicht einfach auf strategische Handlungsfelder übertragen werden. „Aber wir beobachten derzeit genau das: Obwohl Personalmanager seit Jahren versuchen, aus der Ecke des Administrators herauszukommen, lassen sie sich jetzt unkritisch, ja fast schon begeistert in rigide Prozesse einsperren, nur weil diese das Etikett Digitalisierung tragen. Dies färbt auch auf den Bereich der strategischen Personalarbeit ab.“
„Erfolgsfaktoren von gestern können keine Antworten für morgen liefern.“
In einer eigenen Arbeitsgruppe hat sich der Goinger Kreis mit den verschiedensten Publikationen und Instrumenten zur Digitalisierung der Personalarbeit beschäftigt. Das Fazit: Obwohl viel von Autonomie, Empowerment und Vertrauen die Rede ist, trifft dies auf viele der tatsächlich angebotenen digitalen HR Instrumente nicht zu.
Beispiel Führung: Viele Tools zielen auf die lückenlose Kontrolle der Mitarbeiter und offenbaren damit ein sehr hierarchisches und misstrauensgetriebenes Aufgabenverständnis. Instant-Feedback-Systeme wollen Mitarbeiter möglichst schnell in die „richtige“ Richtung zu lenken. Abgesehen davon, dass es „die“ Wahrheit in offenen Systemen nicht geben kann: Wenn schon die ersten, noch unausgegorenen Gedanken bewertet werden und jeder experimentelle Schritt überwacht wird, dann kann nichts wachsen. Ein Klima der Beobachtung und Überwachung ist veränderungsfeindlich.
Beispiel Recruiting: „In der Personalauswahl sind digitale Instrumente allein auf die optimale Übereinstimmung zwischen Anforderungs- und Kandidatenprofil ausgerichtet“, erklärt Axel Klopprogge, Leiter der Arbeitsgruppe Digitalisierung und Personalarbeit. „Algorithmen benutzen Vergangenheitsdaten, um passgenaue Lösungen für die Gegenwart zu finden, die wiederum die Grundlage für zukünftiges Handeln sein sollen. Im Klartext: Erfolgsfaktoren von gestern sollen Antworten für morgen liefern. Das geht nicht.“ Systeme versprechen, die Persönlichkeit eines Menschen aus seiner Stimme, seinem Gesicht oder seinen Gesten ableiten zu können, z.B. durch den Abgleich mit entsprechenden Eigenschaften erfolgreicher Manager. Dabei wird übersehen, dass Menschen viele Facetten haben, dass ihre Taten unterschiedlich bewertet werden können – und dass sie sich ändern können. Wie hätte ein digitales System zur Beurteilung von Gesichtszügen oder Stimmmustern wohl Menachem Begin oder Jassir Arafat eingeordnet: als Terroristen oder Friedensnobelpreisträger?
„Wir brauchen Querdenker und offene digitale Systeme.“
Gerade die Wandlungsfähigkeit des Menschen ist für den Goinger Kreis ein starkes Argument gegen mechanistisches Denken. Innovationsexperte Klopprogge: „Die Fähigkeit des Menschen, querzudenken, Emotionen zu zeigen, sich für die Beziehung zu anderen Menschen zu entscheiden, sich zu verändern und gegen alle Wahrscheinlichkeit Dinge möglich zu machen, ist kein Störfaktor, sondern die Quelle unternehmerischen Erfolgs. Und immer mehr zeigt sich: Wenn man diese menschlichen Fähigkeiten unterdrückt, werden Mitarbeiter krank.“
Nach Ansicht des Goinger Kreises gibt es durchaus Ansätze für offene Systeme, etwa im Bereich der Personalauswahl. So seien etwa Video-Bewerbungen eine sinnvolle Anwendung. „Aber nicht, um einen Menschen maschinell auf eine definierte Passgenauigkeit zu prüfen, sondern um ihn als lebendige Person sichtbar zu machen.“ Was vor einigen Jahren noch hohe Reisekosten verschlungen hätte, sei heute dank digitaler Technologie mit ein paar Klicks umsetzbar. Darüber hinaus seien Algorithmen denkbar, die – vergleichbar mit den Amazon-Empfehlungen – zusätzliche Kandidaten vorschlagen, die interessante Abweichungen vom Standardprofil aufweisen. „Das sind offene Systeme, die Entscheidungsräume öffnen, statt sie zu begrenzen. Solche Systeme sollten wir einfordern, an solchen Systemen sollten Softwareentwickler arbeiten.“
„So müssen digitale HR-Instrumente aussehen.“ – das Digital HR Manifesto
In diesem Sinne will der Goinger Kreis das Digital HR Manifesto als Plädoyer für eine Personalarbeit verstanden wissen, die den Menschen als Wertschöpfungs- und Differenzierungsfaktor fördert – und als Auftrag an die Verantwortlichen in den Unternehmen und der Software-Industrie. Struktur und Stoßrichtung des HR Digital Manifesto sind inspiriert durch das 2001 von einer Gruppe Softwareentwickler veröffentlichte Agile Manifesto. Bemerkenswert: Obwohl sie selbst die Treiber der Digitalisierung waren, forderten die Computer-Experten eine Stärkung nicht-digitaler Tugenden, ohne dabei die Vorteile digitaler Hilfsmittel aus dem Blick zu verlieren. Das Digital HR Manifesto steht in dieser Tradition. Marquardt: „Digitale Instrumente müssen zumindest Freiräume lassen, damit Menschen vom Bestehenden abweichen und Differenzierungsmerkmale entwickeln können. Noch besser aber ist es, wenn digitale Instrumente die kreativen Fähigkeiten von Menschen nicht nur zulassen, sondern unterstützen. Wir glauben, dass das möglich ist.“
Das Digital HR Manifesto – Zwölf Anforderungen an digitale HR Instrumente
Empathie, Vertrauen, Freiraum, Verantwortung und Vielfalt sind entscheidende Faktoren für die Innovations- und Veränderungsfähigkeit und damit für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Digitale HR Instrumente müssen so beschaffen sein, dass sie die Erfolgsfaktoren menschlichen Handelns unterstützen, statt sie als Störfaktor beseitigen zu wollen.
Offene Gestaltungsräume sind wichtiger als vorstrukturierte Lösungen.
- Digitale Instrumente mehren die Vielfalt an Alternativen und Denkrichtungen, statt sie möglichst schnell auf eine Lösung zu reduzieren.
- Digitale Instrumente fördern Mut, Entscheidung und Beharrlichkeit, statt zu suggerieren, eine gute Datenlage ersetze die aktive Entscheidung.
- Digitale Instrumente laden bei allen Tätigkeiten zum aktiven Mitdenken, Ausprobieren und Verbessern ein, statt Menschen zu willenlos Ausführenden zu degradieren.
Fähigkeit zur Veränderung ist wichtiger als irrtumsfreie Prognose.
- Digitale Instrumente lassen zu, dass sich Menschen entwickeln, statt das Bild eines in sich konsistenten und unveränderlichen Wesens zu zeichnen.
- Digitale Instrumente ermöglichen, dass sich Aufgaben und Anforderungen wandeln, statt eine statische Passgenauigkeit anzustreben.
- Digitale Instrumente unterstützen die empathische Beziehung zwischen Menschen als Erfolgsfaktor, statt sie zu eliminieren, zu automatisieren oder vorzutäuschen.
Vertrauensvolle Beziehung ist wichtiger als starre Normierung.
- Digitale Instrumente machen Ideen und Probleme in ihrer Unterschiedlichkeit sichtbar, statt Meinungen und Verhalten zu vereinheitlichen.
- Digitale Instrumente schaffen konkrete und praktisch erlebbare Entscheidungsmöglichkeit, statt alles in vorgeprägte Muster zu zwängen.
- Digitale Instrumente erlauben feedbackfreie Räume für Geheimnisse und Vorläufiges, statt alles sofort der Bewertung auszusetzen.
Individuelle Verantwortung ist wichtiger als anonyme Prozesse.
- Digitale Instrumente stärken auch in der Netzwerkarbeit die Verantwortung des einzelnen, statt sie durch folgenlose Beliebigkeit zu verwässern.
- Digitale Instrumente halten den außergewöhnlichen Weg offen und ermöglichen bewusste Ausnahmen, statt Initiativen jenseits des Status quo zu blockieren.
- Digitale Instrumente machen die Maßstäbe und Methoden transparent, nach denen Menschen und ihre Leistungen beurteilt werden, statt sich hinter Algorithmen zu verstecken.
Der Goinger Kreis entwickelt seit seiner Gründung im Jahr 2004 neue Ansätze für die Personalarbeit an der Schnittstelle zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Im Goinger Kreis engagieren sich Personalverantwortliche renommierter Unternehmen, Wissenschaftler und Unternehmensberater.
Hintergrundinformationen zu einzelnen Ergebnissen der Studie unter: www.goinger-kreis.de.
Im Oktober 2019 werden die Ergebnisse der Studie zur Digitalisierung und Personalarbeit in einem Buch veröffentlicht.
Weitere Informationen oder Interviewanfragen an:
Goinger Kreis – Initiative Zukunft Personal & Beschäftigung e.V.
Flagredder 77
21521 Wohltorf
Tel. 04104 690875
Ansprechpartner: axel.klopprogge@goinger-kreis.de